Missions Publiques https://missionspubliques.org/?lang=de Wed, 20 Mar 2024 18:12:43 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.5.5 https://missionspubliques.org/wp-content/uploads/2020/02/favicons.png Missions Publiques https://missionspubliques.org/?lang=de 32 32 EU-Kommission: „Wir haben die deliberative Demokratie zu einem festen Bestandteil unseres Entscheidungsprozesses gemacht“ https://missionspubliques.org/eu-kommission-wir-haben-die-deliberative-demokratie-zu-einem-festen-bestandteil-unseres-entscheidungsprozesses-gemacht/?lang=de Mon, 05 Dec 2022 13:16:53 +0000 https://missionspubliques.org/eu-kommission-wir-haben-die-deliberative-demokratie-zu-einem-festen-bestandteil-unseres-entscheidungsprozesses-gemacht/ L’article EU-Kommission: „Wir haben die deliberative Demokratie zu einem festen Bestandteil unseres Entscheidungsprozesses gemacht“ est apparu en premier sur Missions Publiques.

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Konferenz zur Zukunft Europas: die Jugendlichen wollen Taten sehen https://missionspubliques.org/konferenz-zur-zukunft-europas-die-jugendlichen-wollen-taten-sehen/?lang=de Wed, 23 Nov 2022 14:11:07 +0000 https://missionspubliques.org/konferenz-zur-zukunft-europas-die-jugendlichen-wollen-taten-sehen/ L’article Konferenz zur Zukunft Europas: die Jugendlichen wollen Taten sehen est apparu en premier sur Missions Publiques.

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Caterina, Nicolas, Kacper und Matous … vier Jugendliche, die an der Konferenz zur Zukunft Europas teilgenommen haben. Wir haben sie in Brüssel beim Festival „Bürgerbeteiligung und deliberative Demokratie“ getroffen, das von der Europäischen Kommission organisiert wurde. Die Konferenz markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben als Bürger Europas. Künftig erwarten sie, dass die Institutionen die Erwartungen erfüllen, die diese einzigartige Veranstaltung geschürt hat.

„Frischer Wind“

Caterina lebt in einer kleinen Stadt an der kroatischen Küste. Sie ist 25 Jahre alt und hat Wirtschaft und internationale Beziehungen in Österreich und in Italien studiert. Ihre Mutter ist Kroatin, ihr Vater Italiener, und Caterina ist überzeugte Europäerin, nicht nur wegen ihrer doppelten Kultur. Die junge Frau engagierte sich ehrenamtlich in einem Verein für europäische Solidarität und arbeitet heute für den Verein Youth in the EU, der Europa in den Schulen und bei verschiedenen Veranstaltungen bei Jugendlichen fördert. „Die Jugendlichen kennen die Möglichkeiten nicht, die Europa bietet. Information ist der Schlüssel meiner Arbeit und ein leistungsstarkes Instrument für das Empowerment. Indem ich sie informiere, kann ich ihnen andere, unerwartete Perspektiven eröffnen». Wie blicken die Jugendlichen in Kroatien auf Europa? „Die Haltungen reichen von Skepsis bis Unkenntnis, die meisten fühlen sich jedoch vom europäischen Raum isoliert. Sie nehmen Europa nur durch Investitionen in Infrastrukturen wahr, beispielsweise den Bau einer Brücke oder die Renovierung einer Burg.“

Caterina hat ohne zu zögern zugestimmt, die Empfehlungen ihres Landes bei den Plenumssitzungen auf der Konferenz zur Zukunft Europas zu präsentieren und zu vertreten(1). Eine einzigartige Rolle als dBürgerin und „nationale Vertreterin“, die ihr vom Außenministerium ihres Landes anvertraut wurde. Das einzige, was sie bedauerlich findet, ist die „Trennung“, die sie zwischen den Mitgliedern des Panels und den 27 nationalen Vertretern gespürt hat: „Wir waren von Anfang an nicht Teil derselben Dynamik und die Treffen wurden etwas spät organisiert (…) wir nahmen an den Plenarsitzungen teil,(2) ohne wirklich zu wissen, was zuvor diskutiert worden war“. Ein Jahr lang organisierte sie lokale Dialoge mit Jugendlichen in Kroatien und nahm daran teil, häufig ging es um Umweltthemen und um das Klima.  Sie findet, dass es „mutig“ war, die Bürgerinnen und Bürger in die Institutionen einzuladen, und sie erstmals so stark in europäische Fragen einzubeziehen. Auch die Qualität der konkreten Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger, die in direktem Zusammenhang mit ihrem Alltag stehen, hat sie beeindruckt. „Der Austausch und die Vernetzung zwischen jenen, die die Politik machen, und jenen, für die diese Politik bestimmt ist, sind sehr wichtig. In dieser Hinsicht hat es sich angefühlt wie ein Hauch von frischem Wind.“ Persönlich freut sie, dass die Besonderheit der Inselregionen in den abschließenden Empfehlungen berücksichtigt wurde. In einem Land, das aus 1 400 Inseln besteht, war ihr die Aufnahme dieses Aspekts wichtig. Auch im Hinblick auf die Funktionsweise der europäischen Institutionen hat es die Konferenz zur Zukunft Europas Caterina ermöglicht, „die Komplexität der Entscheidungsprozesse“ zu verstehen, die sehr langwierig und oftmals nicht mit dem Tatendrang der Jugend und der Dringlichkeit der Umweltfragen kompatibel sind.

Ich habe erfahren, dass unsere Generation, die angesichts des Klimawandels sehr besorgt ist, „Gloomers“ genannt wird.(3). Ich bin jedoch eine unverbesserliche Optimistin. Ich hoffe, dass Europa agiler wird, weniger bürokratisch, dass es stärker antizipiert anstatt nur zu reagieren.“

Der Austausch und die Vernetzung zwischen jenen, die die Politik machen, und jenen, für die diese Politik bestimmt ist, sind sehr wichtig. In dieser Hinsicht hat es sich angefühlt wie ein Hauch von frischem Wind.“

Caterina

25 Jahre

Die Regierungen der einzelnen Länder müssen stärker eingebunden werden

Nicolas war einer der Jugendlichen, die an der Konferenz zur Zukunft Europas teilgenommen haben. Er war 16 Jahre alt. Ein Jahr später lebt Nicolas immer noch in der Tschechischen Republik und geht aufs Gymnasium. Zurzeit geht er – wie die meisten Jugendliche in seinem Alter – am liebsten mit seinen Freunden weg und verreist.

Eines Tages erhielt er auf dem Rückweg von der Schule einen Anruf und erfuhr, dass er für die Teilnahme an der Konferenz ausgewählt wurde. Erst kam ihm die Sache verdächtig vor und er wollte der Person am anderen Ende des Hörers nicht recht glauben, auch seine Mutter reagierte zunächst alles andere als begeistert: „Gib ihm bloß nicht meine Kreditkartendaten!“ Das Projekt konkretisierte sich, als Nicolas eine E-Mail von der Europäischen Union erhielt: „Das war ein tolles Gefühl, ich habe geweint, auf mich wartete eine ganz besondere Erfahrung! Für mich war die Auslosung die Chance, Menschen aus allen Ländern und hochrangige Politiker zu treffen“. Was wusste er damals über Europa? Nicht viel: „Ich wusste nur, dass die Tschechische Republik Teil der europäischen Union ist. Ich interessierte mich nicht sonderlich dafür.“ Die Konferenz erweiterte seine Perspektiven: „Ich habe sehr viel über die Institutionen, die Projekte und die Möglichkeiten gelernt, die sich Jugendlichen ab 18 bieten.“ Die Überrepräsentation der Jugendlichen war für die drei großen Institutionen (Europäische Kommission, Europäisches Parlament und Rat) von Anfang an eine Herausforderung, und von den 800 Bürgerinnen und Bürgern, die per Zufall ausgelost wurden, war ein Drittel zwischen 16 und 25 Jahre alt. Hat es sich ausgezahlt? Wurde die Stimme der Jugendlichen, sofern sie denn existiert, gehört? Nicolas bejaht, auch wenn er gerne noch mehr minderjährige Teilnehmende gesehen hätte. Er findet, dass es bei den Debatten keine Kluft zwischen der jungen Generation und den älteren Bürgerinnen und Bürgern gab und dass sie sich gegenseitig zugehört haben. In seiner Arbeitsgruppe wurde er bei den Plenarsitzungen zum Sprecher ernannt(4), worauf er sehr stolz ist.

Ein Thema liegt Nicolas besonders am Herzen: die Zahngesundheit. „In der Tschechischen Republik sind zu viele Zahnärzte selbstständig tätig. Sie sind für viele Menschen viel zu teuer (…) Bei meinen Recherchen und den Gesprächen in meiner Arbeitsgruppe ist mir aufgefallen, dass dies ein europaweites Problem ist“. Bei der Klimafrage hat er jedoch seine Zweifel. „Alle waren sich im Hinblick auf die Bedeutung des Themas einig, aber ich hatte den Eindruck, dass es von den Entscheidern in den Plenarsitzungen nicht wirklich ernst genommen wurde“. Nicolas findet es schade, dass das Abenteuer jetzt zu Ende ist, und er hofft, dass die europäischen Institutionen konkrete Taten auf die Empfehlungen folgen lassen, denn die Tschechische Republik, die seit Juli den Ratsvorsitz der Europäischen Union innehat, zeigte sich angesichts einer Änderung der Verträge (eine der Empfehlungen der Bürgerpanels) eher zurückhaltend. Er wünscht sich auch, dass die Schulen in seinem Land ihren Teil dazu beitragen, die Kenntnisse über Europa zu vergrößern.

Ein Jahr der Debatten und der Begegnungen im Zentrum eines völlig neuen Prozesses haben den jungen Mann verändert: Er hat Freundschaften mit Menschen aus allen Teilen Europas geschlossen und Lust bekommen, sich politisch zu engagieren.

Ich habe sehr viel über die Institutionen, die Projekte und die Möglichkeiten gelernt, die sich Jugendlichen ab 18 bieten.“

Nicolas

16 Jahre

„Es gibt nicht genügend Meinungsvielfalt in Europa“

Matous, 20 Jahre, kommt ebenfalls aus der Tschechischen Republik, genauer gesagt, aus der Stadt Litoměřice. Er studiert Recht und Lehramt und ist Trainer in einem Ruderverein. Seine Mutter ist Ärztin und sein verstorbener Vater war beim Militär. Er kann sich nicht vorstellen, später nur einen einzigen Beruf auszuüben, Richter oder Diplomat kämen für ihn als Berufe in Frage, aber nicht nur. Auch ein Engagement in einer politischen Partei schließt er nicht aus.

Er findet, dass zu viele Leute Europa und die Europäische Union verwechseln. Auf der Konferenz zur Zukunft Europas hat er den Unterschied erfahren und „verstanden, was die EU für uns macht“. Weder verändert noch überzeugt, Matous hat eine etwas andere Sicht als die anderen Jugendlichen: „Ich würde mich als konservativ bezeichnen.“Die Konferenz war aus persönlicher Sicht genial, das heißt, für meine Erfahrung, um meine Kompetenzen zu testen (…), aber letztendlich müssen meiner Meinung nach die Politiker entschieden, schließlich wählen wir sie, weil sie unsere Meinung vertreten“. Auch wenn viele Politiker die Maßnahmen, für die sie gewählt wurden, nicht immer umsetzen, glaubt Matous nicht, dass mehr Konferenzen für und mit den Bürgerinnen und Bürgern die Politik verändern werden, das ist seiner Meinung nach nur durch bessere politische Konzepte möglich.

Ich war mit den Abschlussempfehlungen nicht wirklich zufrieden, bei vielen hatte ich Zweifel, weil die Bürgerinnen und Bürger den Konsens gewählt und sich nicht getraut haben, ihre abweichende Meinung im Plenum zu verteidigen.“ Matous, der der Arbeitsgruppe zur Demokratie angehörte, bereut, dass die Konsensbereitschaft die Uneinigkeiten während des Austauschs verwischt hat, und dass die Zustimmung einer relativen Mehrheit immer den Ausschlag gegeben hat.

Die Teilnehmenden der Panels waren nicht repräsentativ für die Vielfalt der Meinungen zu Europa. Diejenigen, die sich zur Teilnahme bereiterklärt hatten, waren eher europafreundlich gesinnt. Aber was versteht man wirklich unter dem Begriff Einheit? Auf die Frage nach dem Euro, den Preisen und den Steuern habe ich keine Antwort erhalten. In der Tschechischen Republik wollen wir den Euro im Moment nicht, denn wir würden nur verlieren, vor allem bei den Löhnen“.

Auch wenn er nicht vollständig von der Effizienz eines Formats in diesem Maßstab überzeugt ist, möchte er kleinere Formate in der Tschechischen Republik auf einer lokaleren Ebene testen, die von der Landesregierung initiiert werden, wie in Frankreich. Wie Kacper, ein junger Pole in den 20ern, der erst nicht kommen wollte, weil Polen „das schwarze Schaf der EU“ ist, und der „die fehlende Medienberichterstattung in den Mitgliedsländern“ bedauert.

Die Europäische Union verlassen? Das steht nicht zur Debatte, auch wenn sich die Befürworterstimmen in ihren Ländern mehren.

Ich war mit den Abschlussempfehlungen nicht wirklich zufrieden, bei vielen hatte ich Zweifel, weil die Bürgerinnen und Bürger den Konsens gewählt und sich nicht getraut haben, ihre abweichende Meinung im Plenum zu verteidigen.

Matous

20 Jahre

Die Konferenz zur Zukunft Europas in Zahlen

  • Insgesamt wurden in den 27 Mitgliedsstaaten 6 465 Veranstaltungen organisiert, an denen 652 532 Personen teilnahmen. Eine Online-Plattform in allen offiziellen Sprachen, die fünf Millionen Mal aufgerufen wurde, und 52 346 aktive Teilnehmende, die darauf 17 671 Ideen geteilt und 21 877 Kommentare hinterlassen haben.
  • Nationale Bürgerpanels in sechs Ländern: Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Litauen und den Niederlanden.
  • Die Empfehlungen der europäischen Bürgerpanels wurden von der Plenarversammlung der Konferenz, die zu gleichen Teilen aus Vertreterinnen und Vertretern der drei Institutionen und Vertreterinnen und Vertretern der nationalen Parlamente sowie aus Bürgerinnen und Bürgern und Vertreterinnen und Vertretern der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft bestand, ausgewertet und zusammengefasst.
  • Der Schlussberichtwurde in Zusammenarbeit mit der Plenarversammlung der Konferenz von einem Exekutivrat aus neun Vertreterinnen und Vertretern des Parlaments, der Kommission und des Rates verfasst. Insgesamt umfassen die Schlussfolgerungen der Konferenz mehr als 320 Maßnahmen, verteilt auf 49 Vorschläge zu neun großen Themen.

(1) Die Konferenz zur Zukunft Europas steht für: Eine Online-Konsultation auf einer mehrsprachigen Plattform, per Zufall ausgewählte Bürgerinnen und Bürger (4 Panels aus jeweils 200 Bürgerinnen und Bürgern zu verschiedenen Themen), nationale Vertreterinnen und Vertreter der 27 EU-Länder und nationale Veranstaltungen, die in jedem Land organisiert werden. Weitere Informationen stehen in unserer Projektbeschreibung zur Verfügung.
(2) Die Plenarsitzungen boten Gelegenheit für Diskussionen zwischen den Politikerinnen und Politikern der Institutionen, den Bürgerinnen und Bürgern, die als „Botschafterinnen und Botschafter“ Teil der Panels waren, und den 27 nationalen Vertreterinnen und Vertretern.
(3) Ein „Gloomer“ ist eine missmutige, verdrossene Person. Der Ausdruck bezeichnet junge Erwachsene in den 20ern, die kein Ziel und keine Ambitionen im Leben haben, aber trotzdem weiterleben.
(4) Bei den Plenarsitzungen waren zu gleichen Teilen Vertreterinnen und Vertreter der drei Institutionen und Vertreterinnen und Vertreter der nationalen Parlamente vertreten, sowie Bürgerinnen und Bürger und Vertreterinnen und Vertreter der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft.

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Europa: „Deutsch-französische Städtepartnerschaften haben eine entscheidende Rolle zu spielen“. https://missionspubliques.org/europa-deutsch-franzoesische-staedtepartnerschaften-haben-eine-entscheidende-rolle-zu-spielen/?lang=de Mon, 17 Oct 2022 16:03:51 +0000 https://missionspubliques.org/?p=8186 L’article Europa: „Deutsch-französische Städtepartnerschaften haben eine entscheidende Rolle zu spielen“. est apparu en premier sur Missions Publiques.

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Die Stadt Angers in der Region Pays de la Loire im Westen Frankreichs und Osnabrück sind seit über 50 Jahren Partnerstädte. Beide Städte haben eine vorbildliche, kommunale e Zusammenarbeit entwickelt.(1) Wir haben Jean-Marc Minier, den Vorsitzenden des „Maison de l’Europe Angers & Maine-et-Loire – Europe Direct“ und Jens Koopmann, Leiter des Städtepartnerschaftsbüros der Stadt Osnabrück getroffen(2), um über ihre Vision von Städtepartnerschaften und die Rolle von Jugendlichen zu sprechen.

Missions Publiques. Sie „entstauben“ die Vision der Städtepartnerschaft mit innovativen Programmen. Ich denke dabei insbesondere an Ihren ganzjährigen Austausch von Städtebotschaftern. Inwiefern können Städtepartnerschaften das Zugehörigkeitsgefühl der europäischen BürgerInnen, insbesondere der jungen Menschen, heutzutage stärken?

Jean-Marc Minier. Seit über fünfzig Jahren hat Angers ein System für den Austausch junger Botschafter mit seinen Partnerstädten eingerichtet. Im Rahmen dieses Projekts wird jedes Jahr ein junger Angevin ernannt, der Angers in einer Partnerstadt vertreten soll: Osnabrück in Deutschland; Wigan in Großbritannien; Pisa in Italien. Der ausgewählte Botschafter für Osnabrück  arbeitet  ein Jahr lang als Angestellter der deutschen Stadt. Seine Aufgabe ist es, einen aktiven Beitrag zur Entwicklung der Städtepartnerschaft zutragen. Angers erhält im Gegenzug für denselben Zeitraum einen jungen Menschen aus Osnabrück. Die Botschafter der Partnerstädte tragen dazu bei, den Jugendlichen in Angers Deutschland, seine Kultur und seine Lebensart besser bekannt zu machen. Es ist eine Gelegenheit für sie, sich der Gemeinsamkeiten der Europäer bewusst zu werden, aber auch des Reichtums ihrer Vielfalt. Es ist auch eine Gelegenheit für sie zu entdecken, was eine europäische Mobilitätserfahrung mit sich bringt

Jens Koopmann. Gerade die jungen Menschen, die als Städtebotschafter auch eine offizielle Funktion wahrnehmen, können durch ihre Arbeit, ihre Ideen und ihre Kreativität die Städtepartnerschaft – und damit auch das Thema „Europa“ – lebendig gestalten. Aufgrund ihres Alters haben sie sehr guten Zugang zu jungen Menschen und verstärken so den direkten Austausch (z. B. bei Schulbesuchen: Präsentation der Partnerstadt und des Landes sowie europarelevanter Themen in unterschiedlichsten Klassenstufen und Schulformen sowie aktive Teilnahme am fremdsprachlichen Unterricht). Und da setzen die Städtepartnerschaften als Brücke zwischen den Menschen an: über Begegnungen, Projekte und Austausche kann gemeinsam etwas erlebt werden, Vorurteile können abgebaut und Vertrauen aufgebaut werden, und das auch zu europäischen Themen.

« In Zukunft ist es notwendig, den Austausch im Rahmen von Bürgerdialogen weiterzuentwickeln, um jungen Menschen Möglichkeiten zur aktiven Bürgerbeteiligung zu ermöglichen.

Jens Koopmann

Missions Publiques. Ihre beiden Städte haben an der Konferenz über die Zukunft Europas teilgenommen. 60 Einwohnerinnen und Einwohner aus Angers und Osnabrück haben Handlungsvorschläge formuliert. Was nehmen Sie aus dem Projekt mit?

Jean-Marc Minier. Ich nehme besonders die Erkenntnis der guten Übereinstimmung von  Vorschlägen zu den Themen Bildung und europäische Werte; Mobilität und Jugendaustausch für ein besseres gegenseitiges Verständnis und die Erwartung einer Kommunikation der Europäischen Union, die besser auf junge Menschen ausgerichtet ist, mit. Unsere Vorschläge zum Thema „Die Zukunft der europäischen Jugendpolitik“ zielten insbesondere auf eine stärkere Präsenz der EU mit jugendlichem Zielpublikum in den sozialen Netzwerken sowie auf mehr Kommunikation und Werbung rund um den Europäischen Freiwilligendienst ab.

Jens Koopmann. Es hat sich gezeigt, dass über die Städtepartnerschaft die Themen Europa, Frieden, politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie oder auch Umweltschutz und Nachhaltigkeit direkt zu den Menschen gebracht werden können. Es besteht auch zukünftig großer Bedarf, im Rahmen von Bürgerdialogen im Gespräch zu bleiben und vor allem jungen Menschen aktive Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen.

«  Im Kontext der deutsch-französischen Städtepartnerschaften sollten neue Projektrahmen erschaffen werden, die den Erwartungen der Jugendlichen entsprechen und den Austausch in beiden Sprachen noch stärker fördern.

Jean-Marc Minier

Missions Publiques. Der Elysée-Vertrag feiert bald sein 60-jähriges Jubiläum. Wie sieht Ihre Vision für Städtepartnerschaften in den kommenden Jahren aus? Was sind die großen Themen und Herausforderungen?

Jean-Marc Minier. Um die Städtepartnerschaften dauerhaft zu erhalten, ist es wichtig, dass sich die Jugendlichen engagieren. Dazu muss man kreativ sein, um Formen des Austauschs und Dialogs zu erfinden, die für junge Menschen geeignet sind. Gemeinsame Projekte können dazu beitragen, ein besseres gemeinsames Kennenlernen und Verständnis zu erleichtern. Die Organisation gemeinsamer Besuche des Europäischen Parlaments der Partnerstädte verbunden mit Treffen der  Europaabgeordneten aus den jeweiligen Wahlkreisenkann dazu beitragen, ein europäisches Bewusstsein zu schmieden. Was die deutsch-französischen Städtepartnerschaften betrifft, die im Übrigen sehr zahlreich sind, sollten die Modalitäten erneuert werden, um sie an die Erwartungen der Jugendlichen anzupassen. Außerdem sollte der Austausch in beiden Sprachen für deutsche Jugendliche, die Französisch lernen, und für französische Jugendliche, die Deutsch lernen, gefördert werden. Es wäre hilfreich, wenn ihre jeweiligen Lehrer in diesen Ansatz eingebunden, wenn nicht sogar die treibende Kraft wären. Eine Sensibilisierung für die Geschichte der beiden Länder wäre ebenfalls willkommen.

Jens Koopmann. Städtepartnerschaften haben auch in Zukunft eine entscheidende Bedeutung: Menschen miteinander in den Austausch bringen und durch gemeinsam Erlebtes Misstrauen ab- und Vertrauen aufzubauen, neue Netzwerke zu bilden und noch stärker über tri- oder multilaterale Projekte Menschen verschiedener Länder zusammenzubringen. Vor allem junge Menschen müssen hier noch intensiver angesprochen und eingebunden werden, damit sie sich engagieren können und ein europäisches Bewusstsein entwickeln, wie Jean-Marc bereits erwähnte. Wie erleben junge Menschen Europa? Was denken sie über Europa, in dem Grenzen, die überwunden schienen, wieder hochgezogen werden? Oder wie können sich junge Menschen für ein geeintes Europa engagieren? Und wie steht es um unsere Demokratie in Europa? Welches geschichtliche Bewusstsein haben wir? Städtepartnerschaften – so auch die deutsch-französischen – werden immer wieder von unterschiedlichen äußeren Einflüssen und sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt. Darauf müssen alle Akteure flexibel reagieren. Insbesondere für Jugendliche sollen Städtepartnerschaften weiterhin attraktiv sein, so dass sie sich auch zukünftig dafür engagieren und dadurch zum Erhalt beitragen. Dafür müssen neue kreative Projekte und Austauschformate entwickelt werden. Denkbar wären z. B. der gemeinsame Besuch von europäischen Einrichtungen oder die stärkere Förderung der jeweils anderen Sprache.


(1) https://www.diplomatie.gouv.fr/de/frankreichs-beziehungen-zu-deutschland-osterreich-und-der-schweiz/dezentralisierte-zusammenarbeit/article/angers-und-osnabruck-pioniere-im-bereich-der-stadtepartnerschaft-dank-ihres
(2) https://www.osnabrueck.de/staedtepartnerschaften

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„Unser Wissen über die deliberative Demokratie dekolonisieren“ https://missionspubliques.org/decolonisons-nos-connaissances-de-la-democratie-deliberative/?lang=de Mon, 17 Oct 2022 15:22:19 +0000 https://missionspubliques.org/decolonisons-nos-connaissances-de-la-democratie-deliberative/ L’article „Unser Wissen über die deliberative Demokratie dekolonisieren“ est apparu en premier sur Missions Publiques.

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Ist Deliberation, also die Beratung, bevor eine Entscheidung getroffen wird, universell? Ist sie wünschenswert? Ist unsere Art, sie in Europa zu konzeptualisieren und zu organisieren (zu stark) „westlich orientiert“? Und sind wir als Gemeinschaft bereit, uns die Antworten auf diese Fragen anzuhören? Sie verdienen es in jedem Fall, diskutiert und debattiert zu werden. Die beiden Forscherinnen und Expertinnen für demokratische Innovation Nicole Curato und Melisa Ross(1) rücken unsere Praktiken ins rechte Licht. Ein Interview.

Missions Publiques. Ihre Arbeiten beziehen sich auf die Deliberation auf der ganzen Welt. Ist Deliberation universell, oder handelt es sich dabei nur um ein reines „Produkt“, das vom Westen exportiert wird?

Melisa Ross: Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie wir Deliberation konzeptualisieren: Wenn wir sie aus akademischer Sicht betrachten, geht es dabei um eine Debatte, die unter streng kontrollierten Bedingungen stattfindet, bei der eine Gruppe ausgewählter Teilnehmer die Meinungen der anderen abwägen und berücksichtigen kann, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, nämlich einen Konsens durch öffentliche Argumentation.

Diese Definition impliziert jedoch gewisse Voraussetzungen, zum Beispiel den gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Raum, Normen für die Argumentation und die Diskurs-Strukturen, und sie ignoriert die sehr realen materiellen Ungleichheiten, die verhindern können, dass sich die Menschen in solchen Räumen engagieren, weitgehend.

Wenn wir Deliberation jedoch eher als eine Form des demokratischen Austauschs verstehen, denken wir vielmehr an eine menschliche Fähigkeit, die schon lange vor der Entstehung dieser wissenschaftlichen Definitionen existierte und die auch danach bestehen bleiben wird.

Daher geht es vielleicht nicht um die Frage, ob Deliberation universell ist, denn sie ist Teil der geteilten menschlichen Erfahrung und findet in vielen verschiedenen Formen und Kontexten statt. Es geht vielmehr darum, warum wir der „realen“ Deliberation, die auf der ganzen Welt effektiv stattfindet, nicht dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt haben.

Nicole Curato: Ich stimme Melisa zu, Deliberation im weiteren Sinne findet an vielen Orten auch außerhalb des Westens statt. Das Buch Deliberative Democracy in Asia liefert beispielsweise viele historisch begründete Beispiele zu der Art und Weise, wie inklusive Beratung in asiatischen Gesellschaften lange Zeit häufig als kollektiver Entscheidungsmechanismus genutzt wurde, noch bevor Wahlen eingeführt wurden. Die Deliberation kann je nach Ort, an dem sie stattfindet, ein anderes „Look and Feel“ haben, und unsere Aufgabe als Forscher*innen und Verteidiger*innen der deliberativen Demokratie ist es, die Pluralität des Ausdrucks der Deliberation zu zelebrieren, und nicht, ein ideales Format für eine „gute Deliberation“ vorzugeben.

 

Missions Publiques. Gemäß Ihrer Argumentation bedeutet das also, dass wir, wenn wir im akademischen Bereich und im „Globalen Norden(2)“ über Deliberation sprechen, an eine formalisierte und institutionalisierte Deliberation denken …

Melisa Ross: Ja, und das impliziert mindestens zwei Merkmale: Erstens, dass die Teilnehmenden gleichberechtigten Zugang zu Informationen und einem Raum für Debatten haben, und zweitens, dass sie auf gewisse Weise das soziale Gebilde als Ganzes vertreten.

Wenn wir uns jedoch die bestehenden öffentlichen Ressourcen für jene, die deliberative Prozesse umsetzen möchten, näher anschauen, wird die Liste der grundlegenden Prinzipien allerdings schnell länger: die OECD identifiziert mindestens elf Prinzipien für die Implementierung von qualitativ hochwertigen deliberativen Prozessen.

Betrachten wir Deliberation also nicht als bestehende Form der Organisation und des demokratischen Austauschs in den Gemeinschaften, dann reduziert sich die Zahl der Prozesse, an die wir denken, schnell, wenn wir diese beiden Elemente als Herzstück der Deliberation ansehen. Wir denken jetzt an sehr spezifische Formen des Austauschs, die unter sehr restriktiven Bedingungen stattfinden können und die in anderen Kontexten außerhalb von reichen Ländern und Gesellschaften mit vielen Ressourcen extrem schwer zu realisieren sind.

In der Praxis zeigt sich dies durch ein stärkeres Interesse an den materiellen Bedingungen, die es ermöglichen, diese Räume des Austauschs zu schaffen, wie beispielsweise die Garantie von unabhängiger Expertise und professionelle Vermittlung, die Wahl von barrierefreien Gebäuden oder Plattformen, damit dieser Austausch stattfinden kann, und vor Kurzem haben wir beim Global Assembly(3) die Bereitstellung von Lösungen wie Simultandolmetschen für die Teilnehmenden gesehen.

Zufallswahlen als Vertretungs- und Legitimitätsgarantie bei der Deliberation nehmen zu. Dies kann zu zwei Problemen führen: erstens dazu, dass dynamische Formen der Teilhabe und der Deliberation außerhalb des Globalen Norden ignoriert werden, weil sie diesen Prinzipien nicht entsprechen, und zweitens, zu dem Versuch, die formelle und institutionelle Deliberation zu entwurzeln, die diese Prinzipien in Kontexten widerspiegelt, in denen sie wenig Sinn ergeben, die bestehende Formen des Regierens auf Gemeinschaftsebene ignorieren, oder sogar dazu, dass die Effekte jener, die in den Regionen und vor Ort arbeiten, zunichtegemacht werden.

Nicole Curato: Ich bin ebenfalls tief besorgt darüber, dass einige Menschen die „deliberative Demokratie“ mit Zufallswahlen oder deliberativen Kleingruppen gleichsetzen. Das ist eine Schande, denn ein großer Teil unserer Aufgabe als Verteidiger*innen der deliberativen Demokratie besteht darin, zu überlegen, wie wir unseren öffentlichen Raum verändert können und wie er sensibler für gute Argumente werden kann, wie er Minderheitenstimmen Gehör schenken kann. Zu unserer Aufgabe gehört es auch, über die Vorschriften und die Verantwortung von großen Tech-Unternehmen nachzudenken, die die öffentlichen Debatten, die hauptsächlich online stattfinden, heutzutage gestalten, oder über die politische Ökonomie der globalen Medien, die die Wirtschaftsinteressen zulasten des Gemeinwohls fördern. Ich kenne viele Partisan*innen der deliberativen Demokratie, die in diesem Bereich arbeiten, und hoffe, dass auch diese Stimmen stärker werden.

logisch, dass die Bürger*innen außerhalb von geordneten Sälen, erleichterten Debatten und rationalen Expertenbeiträgen versuchen, Wandel herbeizuführen.

Melisa

Missions Publiques. Die OECD untersucht hunderte von deliberativen Prozessen. Bedauern Sie, dass der Bericht nicht auf die Bemühungen der Länder des Globalen Südens eingeht?

Melisa Ross: Ob freiwillig oder unfreiwillig, der „Globale Norden“ gibt den Rahmen für die Richtung vor, die die Welt einschlägt. Der Bericht der OECD(4) zu den Prinzipien der deliberativen Demokratie, der anhand der Prüfung von mehr als 570 deliberativen Prozessen, die in den Ländern des Nordens stattgefunden haben, erstellt wurde, kommt zu dem Schluss, dass die Deliberation als Option zur Beeinflussung der weltweiten Politik immer wichtiger wird.

Aus anderen Datenbanken erhalten wir jedoch andere Informationen. In der Datenbank LATINNO(5) sind für den Zeitraum 1990 bis 2020 beispielsweise 3 700 Fallbeispiele für Bürgerbeteiligung allein in Lateinamerika erfasst. Die Deliberation war in mindestens 43 % der Fälle das wichtigste Innovationsmittel. Nach unserem Wissen gibt es in Lateinamerika die meisten Deliberationen weltweit. 28 % dieser Tausende von Fällen beruhen auf der Bürgerbeteiligung, 24 % auf der digitalen Beteiligung und 5 % auf der direkten Wahl. Aber was ist mit diesen anderen bestehenden Möglichkeiten, um die Politik zu beeinflussen?

Wir untersuchen diese Prozesse nicht, auch nicht die Erfahrungen, aus denen wir Lehren ziehen. In Participedia(6), einer offenen und partizipativen Datenbank, bei der jeder Beiträge einsenden kann, sind circa 2 000 Fallbeispiele für verschiedene Formen von Beteiligung und Deliberation weltweit erfasst, die gemäß mehr als 350 verschiedenen Methoden stattgefunden haben und an denen über 800 Organisationen beteiligt waren. Es ist faszinierend zu sehen, wie einfallsreich Gemeinschaften in der ganzen Welt sind. Woran liegt es also, dass wir uns in Europa und in anderen westlichen Ländern weiterhin nur auf so wenige Fallbeispiele konzentrieren? Vor allem, wenn die Lehren, die wir daraus ziehen können, außerhalb der Länder des Nordens schwer anwendbar sind.

Das bedeutet nicht, dass die Prozesse in anderen Teilen der Welt hieb- und stichfest oder exemplarisch sind. Es kommt häufig vor, dass sie ihre Zwecke verfehlen, dass sie von anderen Kräften als den Bürger*innen zweckentfremdet werden, oder dass ihre Beschlüsse von den Regierungen und anderen Machtorganisationen komplett ignoriert werden. Aber das ist die chaotische Realität des Regierens, die Kluft zwischen den Gemeinschaften in der echten Welt, die ihre Bedürfnisse mitteilen, und der Art und Weise, wie versucht wird, sie zu erfüllen. Daher ist es nur logisch, dass die Bürger*innen außerhalb von geordneten Sälen, erleichterten Debatten und rationalen Expertenbeiträgen versuchen, Wandel herbeizuführen.

Nicole Curato: Bürgerbeteiligung und Deliberation, wie sie in Europa und im Westen stattfinden oder ausgeübt werden, sind ein echtes Ägernis! Als ich zum ersten Mal lernte, was „deliberative Demokratie“ ist, galt das, was ich den „Anstandsdiskurs“ nenne, als Beispiel, dem man folgen sollte. Einige sagten, dass die Beratungen des obersten Gerichts die ideale Form der Deliberation seien, während andere parlamentarische Debatten als weiteren Ort der Deliberation identifizierten.

Die deliberative Theorie präsentiert diese Orte selbstverständlich nicht länger als ideale Orte der Deliberation, erst recht nicht nach der feministischen Kritik, die diese Räume als Orte in Verruf gebracht hat, die gebildeten Männern und einer elitären Klasse vorbehalten sind. Im Lauf der letzten Jahrzehnte betrachtete die deliberative Theorie „alltäglichere“ Diskussionsräume wie soziale Medien, die Familie, den Küchentisch und andere Orte des Austauschs im häuslichen Bereich im Zusammenhang mit Frauen als dynamische Räume der Deliberation.

Ich hoffe auch, dass die Art und Weise, wie die Deliberation außerhalb der Parameter des „Diskurses des Anstands“ abläuft, mehr Anerkennung erhält. In meinem Heimatland, den Philippinen, finden die intensivsten und dynamischsten politischen Gespräche nicht in offiziellen Kongressräumen statt, sondern vor den Türen von Geschäften, wo sich die Arbeiterklasse, Hausfrauen und Arbeiter in prekären Arbeitsverhältnissen treffen, um ein Gläschen zu trinken oder einen Happen zu essen. Dabei tauschen sie sich lautstark über soziale Probleme und das, was getan werden kann, um die Gesellschaft zu verändern, aus, mal in einem legeren, aber ehrlichen Ton, mal vulgär, mal reflektiert. Diese informellen Orte der Deliberation sind in einem öffentlichen Raum, in dem die Eliten die Machtbereiche dominieren, essenziell.

 

Missions Publiques. Warum kann es abträglich sein, ein Modell oder Normen für deliberative Prozesse vorzugeben?

Melisa Ross: Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Veränderungen umzusetzen, vor allem in Gemeinschaften und Kontexten, die nicht die Ressourcen des Globalen Nordens besitzen. Es ist einfach, lange Listen mit Normen und Standards zu erstellen, die nur mit großen Budgets erfüllt werden können, über die die meisten Organisationen, Regierungen und Gemeinschaften nicht verfügen. Stattdessen scheint es im Süden besser zu funktionieren, „mit dem zu arbeiten, was man hat“ und weiterhin auf das Engagement der Gemeinschaften zu setzen, die sich aus freien Stücken engagieren.

Einige westliche Gelehrte und Organisationen werben für sehr spezifische Formen der Deliberation als universelle Heilmittel für die demokratischen Leiden. Ich glaube nicht, dass diese „Heilmittel“ einfach transplantiert werden und außerhalb des Kontexts der ressourcenreichen Länder funktionieren können. Viel wichtiger ist jedoch, dass die Förderung dieser Art von Institution, ungeachtet der Auswirkungen solcher Verallgemeinerungen, zu sehr konkreten abträglichen Ergebnissen führen kann: So wie sich der Begriff „Bürgerbeteiligung“ in den 1990er-Jahren im Bereich der internationalen Entwicklungshilfe zu einem Modewort entwickelte und sich in die Bedingungen für internationale Kredite und Finanzierungen im Nonprofit-Bereich einschlich, sehen wir langsam, dass Bürgerversammlungen und Zufallswahlen zur neuen internationalen Norm für eine „gute“ Beteiligung werden. Weltweit stehen die Gemeinschaften vor ernsthaften Herausforderungen, um diese Normen zu erfüllen, bald könnten sie jedoch verpflichtet werden, Prozesse auf der Grundlage der Zufallsauslosung umzusetzen, als Bedingung für den Erhalt der Finanzierung, von der ihre Projekte und ihre kollektive Organisation abhängt.

Die Deliberation findet bereits statt, überall auf der Welt. Auch wenn sich einige Prozesse und Institutionen besonders gut zu konkreten Zwecken eignen, zum Beispiel Bürgerversammlungen und Kleingruppen, die die Öffentlichkeit repräsentieren sollen, steckt der soziale Wandel immer noch in den Kinderschuhen. Mein bescheidener Appel ist, auf die Orte zu blicken, in denen die deliberative Aktion bereits im Gang ist, zu beobachten und zu lernen, wie Gemeinschaften entstehen, wie sie florieren, wieder verschwinden und Chancen für neue Prozesse schaffen.

Nicole Curato: Ich glaube, dass die meisten Prozesse weltweit zu stark auf den Westen ausgerichtet waren, aber das ändert sich langsam. Melisa und ich und unsere Kolleg*innen aus der ganzen Welt haben dafür plädiert, unser Wissen zur deliberativen Demokratie zu „dekolonisieren“. Es geht nicht nur darum, anzuerkennen, dass es auch nicht-westliche Stimmen gibt, und dass wir diese Stimmen folglich in die Erarbeitung und die Umsetzung von politischen Konzepten integrieren müssen. Sondern es bedeutet auch, dass die Länder des Nordens den Luxus haben, im Bereich der demokratischen Prozesse zu innovieren, da ihre demokratischen Systeme auf der Ausbeutung der Gesellschaften des Südens und der indigenen Gemeinschaften beruhen.

In Australien haben mein Team und ich beispielsweise Bürger-Jurys im ehemaligen Parlament von Canberra organisiert. Die Idee war, dass die Teilnehmenden in den Sälen Platz nahmen, in denen sich früher, vor dem Umzug in das neue Parlamentsgebäude, die Abgeordneten berieten, und dass sie die „Macht“ der Deliberation spürten. Wir vergessen häufig, dass dieses Gebäude, in dem unsere Beratungen stattfanden, auf Land erbaut wurden, das den indigenen Völkern gestohlen wurde. Gegenüber dem ehemaligen Parlament steht die Zelt-Botschaft der Aborigines. Ich glaube, es handelt sich um die längste kontinuierliche Besetzung der Welt, sie soll bezwecken, dass man die Aborigines sieht, dass man ihre Existenz anerkennt, angesichts der von Landraub und der Gewalt während der Kolonialzeit geprägten Geschichte, die die indigenen Gemeinschaften fast ausgelöscht hat. Persönlich denke ich noch darüber nach, warum ich so lange gebraucht habe, um diese Situation als Problem anzuerkennen, und inwiefern ich eine Mitschuld an der ständigen Gewalt gegenüber den Kolonialvölkern trage. Ich sehe diejenigen, die im ehemaligen Parlament „demokratische „Innovation“ hervorbringen, ohne zu sehen, dass unsere demokratische Innovation nur möglich ist, weil wir Deliberationen über das gestohlene Land in Abrede stellen.

Lange bevor die Theoretiker der Demokratie die Wichtigkeit verteidigten, auf die Natur zu hören und diese in unsere Beratungen einzubeziehen, berieten die indigenen Gemeinschaften längst auf diese Weise.

Nicole

Missions Publiques. Um noch einmal zusammenzufassen: Der aktuelle Trend im Westen ist, Deliberation als Rahmen für den Umgang mit Problemen und die Entscheidungsfindung zu verstehen. Welche inspirierenden Beispiele für Deliberation konnten Sie in den Ländern des Globalen Südens beobachten?

Melisa Ross: Andere Prozesse weltweit haben mehrfach gezeigt, dass Deliberation nicht nur in vielen verschiedenen Formen und Kontexten stattfindet, sondern auch in anderen Schritten des politischen Prozesses. Die Deliberation ist weit mehr als eine Gruppe von Personen in einem Raum, die Empfehlungen debattieren, und dies ist in den weltweiten Datenbanken, die ich vorhin erwähnt habe, gut dokumentiert.

In LATINNO werden beispielsweise Fallbeispiele für Beteiligung und Deliberation erfasst, die in mehreren Schritten des politischen Zyklus stattfinden, von der Definition des Problems bis zur Bewertung und den Lehren, die man daraus zieht. Es kann sich um Räume handeln, in die man eingeladen wird, die von Regierungen geschaffen werden, zum Beispiel einberufene Räte, um in spezifischen Politikbereichen mitzuregieren, etwa bei den Rechten von LGBTQI+ oder dem Arbeitsgesetz. Aber es gibt auch andere Beispiele, in denen Gemeinschaften mitregieren, mit, ohne oder trotz des Staates, zum Beispiel im Rahmen des Umweltschutzes oder der partizipativen Planung(7). Das ist beispielsweise in China der Fall, das nach partizipativen Budgetprozessen giert, mit der Unterstützung und eingerahmt durch die chinesische kommunistische Partei.

Besonders faszinierend finde ich bestimmte Institutionen, die von Bürger*innen geleitet werden, um dezentralisierte Dienste gemeinsam zu verwalten. Das ist beispielsweise für die Gemeinschaften in Lateinamerika sehr typisch, wo häufig keine Wasser- und Stromversorgung vorhanden ist, weil sich der Bau von Infrastrukturen für die Unternehmen nicht lohnt. Dort nehmen die Gemeinschaften die Dinge selbst in die Hand, ganz normale Bürger lernen durch deliberative Aktionen, wie man komplexe Infrastrukturen verwaltet, zum Beispiel Wasseraufbereitungsanlagen und Trinkwasserverteilsysteme. Die Gemeinschaften benötigen keine Zufallswahl, sie entwickeln Lösungen für ihre dringlichen Probleme, indem sie sich auf die menschliche Fähigkeit stützen, sich untereinander auszutauschen, Optionen abzuwägen, kollektive Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.

Nicole Curato: In Australien ist der Wunsch, den Stimmen der indigenen Bevölkerung Gehör zu schenken und mehr darüber zu lernen, wie sie beraten und Entscheidungen treffen, groß. Lange bevor die Theoretiker der Demokratie die Wichtigkeit verteidigten, auf die Natur zu hören und diese in unsere Beratungen einzubeziehen, berieten die indigenen Gemeinschaften längst auf diese Weise. Wir können so viel von ihnen lernen.


(1) Nicole Curato ist Dozentin für politische Soziologie am Zentrum für deliberative Demokratie und globale Governance der Universität von Canberra (Australien). Melisa Ross ist Forscherin des Projekts Healthier Democracies, das von dem New Yorker Forschungszentrum Public Agenda geleitet wird. Mit ihren Beiträgen haben sie die Überlegungen des Fellows Program von Missions Publiques bereichert.
(2) Das Konzept des Globalen Nordens und des Globalen Südens (oder das Nord-Süd-Gefälle in einem globalen Kontext) wird verwendet, um die Länder nach sozioökonomischen und politischen Merkmalen zu gruppieren. Der Begriff des Globalen Südens wird häufig für die Regionen Lateinamerika, Asien, Afrika und Ozeanien verwendet.
(3) https://globalassembly.org/
(4) OECD-Bericht „Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions“, Catching the Deliberative Wave, Highlights 2020 (Bürgerbeteiligung und neue demokratische Institutionen, die deliberative Welle, Synthese 2020)
(5) https://www.latinno.net/en/
(6) https://participedia.net/
(7) Lesen Sie unser Interview mit Su Yun Woo „It might seem disconcerting to discuss democratic participation in authoritarian China“: https://missionspubliques.org/it-might-seem-disconcerting-to-discuss-democratic-participation-in-authoritarian-china/?lang=en

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Lokale Unterschiede sind eine unglaubliche Reichtumsquelle! https://missionspubliques.org/lokale-unterschiede-sind-eine-unglaubliche-reichtumsquelle/?lang=de Tue, 22 Mar 2022 16:50:56 +0000 https://missionspubliques.org/lokale-unterschiede-sind-eine-unglaubliche-reichtumsquelle/ L’article Lokale Unterschiede sind eine unglaubliche Reichtumsquelle! est apparu en premier sur Missions Publiques.

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Der Deutsch-Französische Dialog gewinnt den Europäischen Bürgerpreis 2021 https://missionspubliques.org/der-deutsch-franzoesische-dialog-gewinnt-den-europaeischen-buergerpreis-2021/?lang=de Fri, 19 Nov 2021 10:04:50 +0000 https://missionspubliques.org/der-deutsch-franzoesische-dialog-gewinnt-den-europaeischen-buergerpreis-2021/ L’article Der Deutsch-Französische Dialog gewinnt den Europäischen Bürgerpreis 2021 est apparu en premier sur Missions Publiques.

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Der deutsch-französische Dialog zur Stärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Kontext von COVID-19 ist der französische Gewinner des Europäischen Bürgerpreises 2021. Ein partizipatives Projekt, das von Missions Publiques zusammen mit Particip’Action, der Region Grand Est und dem deutschen Bundesland Baden-Württemberg initiiert wurde. Dieser vom Europäischen Parlament in Frankreich verliehene Preis würdigt Initiativen, die ein besseres Verständnis und eine bessere Integration zwischen den europäischen Bürger fördern.

2019 wurde der Vertrag von Aachen von der französischen und der deutschen Regierung unterzeichnet, um die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zu stärken. Diese deutsch-französische Zusammenarbeit wird von den Einwohnerinnen und Einwohnern der Grenzregionen Baden-Württemberg und der Region Grand Est seit langem unmittelbar gelebt. Die COVID-19-Pandemie hat die Einwohnerinnen und Einwohner der beiden Länder unterschiedlich getroffen und sich stark auf die Dynamik der deutsch-französischen Zusammenarbeit ausgewirkt. Die im Frühjahr (März 2020) in der Notlage der Gesundheitskrise getroffene Entscheidung, die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland zu schließen, hat bei den Einwohnerinnen und Einwohnern in der grenzüberschreitenden Region, die erlebten, wie die Grenze (wieder) Wirklichkeit wurde, zu Spannungen und Verwirrung geführt.

Als Reaktion auf diesen Mangel an Zusammenarbeit zwischen zwei benachbarten europäischen Regionen war unsere Initiative darauf ausgerichtet, ein Forum zu schaffen, in dem sich die Einwohnerinnen und Einwohner der beiden Grenzregionen Baden-Württemberg und Grand Est über ihre Erfahrungen mit der COVID- 19-Krise, mit der deutsch-französischen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und zu ihren Wünschen bezüglich der Zukunft dieser Zusammenarbeit in allen Bereichen austauschen können

EINE ZUKUNFTSVISION DER GRENZÜBERSCHREITENDEN ZUSAMMENARBEIT

Die nachstehend im Einzelnen aufgeführten 15 Vorschläge sind integraler Bestandteil ihrer Vision der Zukunft der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Aus ihrer Sicht muss die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in allen Bereichen weiter gestärkt und für die Bürger der Region erkennbarer und engagierter werden. Das Gemeinschaftsgefühl darf nicht an den Grenzen der beiden Länder haltmachen, da die Grenzregion ihr gemeinsamer Lebensraum ist. Um das tägliche Zusammenleben zu vereinfachen, muss die Verwaltung in allen Bereichen harmonisiert und vereinfacht und die auf grenzüberschreitender Ebene bestehenden bürokratischen Hürden abgebaut werden.

Hier sind die 15 Vorschläge der Einwohnerinnen und Einwohner:

  • Partnerschaften von Schulen und Bildung von zweisprachigen Teams von Lehrkräften.
  • Durchführung großer deutsch-französischer Wiedersehensfeiern nach COVID-19
  • Grenzüberschreitender Austausch zwischen den jeweiligen Kulturszenen
  • Harmonisierung der Gesundheitssysteme und Digitalisierung der Verfahren für Grenzgänger
  • Etablierung eines Austauschs zwischen den medizinischen Fachkräften der beiden Länder
  • Ein Chatbot zu grenzüberschreitenden Themen
  • Abbau sozialer, steuerlicher und wirtschaftlicher Disparitäten in der Region Oberrhein
  • Bewertung der Verkehrssituation, um den öffentlichen Verkehr und die Mobilität in Übereinstimmung mit unseren tatsächlichen Bedürfnissen neu zu überdenken
  • Schaffung eines grenzüberschreitenden, für alle vorteilhaften Tickets
  • Schaffung eines umweltverträglichen und nachhaltigen deutsch-französischen Austauschs
  • Vorschläge für eine grüne Zukunft
  • Förderung der zweisprachigen Berufsausbildung in verschiedenen Bereichen
  • Grenzüberschreitende Jobbörse

Dieser transnationale Ansatz ermöglicht es uns nicht nur, die aktuellen Praktiken und Bedürfnisse der Teilnehmer aus diesen Gebieten besser zu kennen, sondern auch ihre Wünsche für die Zukunft.

Die Idee, diese Art des grenzüberschreitenden Dialogs dauerhaf zu etablieren, ist von einer breiten Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unterstützt worden. Dieser Dialog berücksichtigt die kulturellen und sprachlichen Unterschiede und sorgt dafür, dass sie sich gegenseitig verstehen und sich vertreten fühlen und stellt gleichzeitig einen fließenden Austausch im Rahmen informeller und persönlicher Gespräche sicher. Der Europäische Bürgerpreis ist ein Beweis dafür, dass diese Modelle partizipativer Aktivitäten zur Stärkung des europäischen Geistes beitragen. Während die Coronapandemie Regierungen dazu gebracht hat, Regionen als Grenzen (neu) zu denken, bringen uns Bürgerinitiativen dazu, Abstand zu halten und uns andere Formen des Zusammenlebens vorzustellen, die widerstandsfähiger gegen Krisen sind und die Erfahrungen der Einwohnerinnen und Einwohner respektieren.

HERUNTERLADEN

Alle Bürgerempfehlungen finden Sie in unserem Bericht, indem Sie auf den unten stehenden Link klicken.

Illustration ©2021 Europäischer Bürgerpreis

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